Der Erfolg von Medien läßt sich oft durch Polarisierung steigern. Zu diesem Zweck eignen sich auch Kampagnen gegen (angebliche) Arbeitsverweigerer, denen man ihre monatlich absurd niedrigen 345 € ALG II neidet. Zahllose Stammtische übernahmen das „Feindbild Sozialparasit“ des Bundesarbeitslosenbeschimpfungsministers – aber nur so lange, bis die Stammtischmenschen selbst arbeitslos werden und feststellen, daß sie nun selbst in den Augen simpler Hirne als Sozialschmarotzer gelten und das Leben von monatlich 345 € verdammt hart ist. Daß gerade Ex-Arbeitsminister Clement eine Diskussion über Leistungsmißbrauch und ALG-II-„Parasiten“ lostrat, ist u.a. insofern unverständlich, als Clement (als ehemaliger Landesminister, Ministerpräsident und Bundesminister) ebenso wie z.B. Ex-Finanzminister Hans Eichel (als ehemaliger Bürgermeister, Ministerpräsident und Bundesminister) und ebenso wie zahlreiche andere Politiker von CDU, CSU, SPD und FDP auf Kosten der Steuerzahler Mehrfachrentenzahlungen in Anspruch nehmen, die ein Mehrfaches dessen ausmachen, was ein Rentenversicherter (bei gleichem Gehalt) erhalten würde. Zahllose Parlamentarier der o.g. 4 Parteien nutzen jede sich bietende Gelegenheit, durch Nebeneinkünfte ihre Finanzen aufzubessern. Der ehemalige FDP-Schatzmeister und Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt war Rekordhalter mit elf (!) gleichzeitigen Nebeneinkunftsquellen, darunter sehr bedenkliche Auftraggeber, die erhebliche Interessenkonflikte auslösten (z.B. Energiemonopolist Vattenfall). Faustregel: Je drastischer Politiker Eigenverantwortung predigen, desto mehr Nebeneinkünfte haben sie – quasi als Vorbild.
Wirtschaftsvertreter, die auf Kosten der Steuerzahler alle erdenklichen geldwerten Vorteile (Firmenwagen, Gastronomiespesen, überhöhte Betriebsrenten, etc.) von der Steuer absetzen und ohne Not Gestaltungsspielräume in ihren Bilanzen nutzen, werfen ebenso Steine im Glashaus wie z.B. die Vorstände/Geschäftsführer von Unternehmen, die ältere Mitarbeiter auf Kosten der Rentenkasse/Steuerzahler in den Vorruhestand entsorgen.
Es erscheint sinnvoll, sich mit den weitaus größeren und interessanteren Fällen von legalem Leistungsmißbrauch zu beschäftigen. Die EU und das Land Sachsen zahlten z.B. der Unternehmensgruppe Theo Müller (Müller Milch) 2003 70 Mio. € Subventionen für 148 neue Arbeitsplätze in Sachsen, also 473.000 € pro Arbeitsplatz. Da die zusätzlichen Kapazitäten des Werkes in Sachsen überflüssig waren, schloß die Müller-Gruppe gleichzeitig 2 Werke in Westdeutschland und entließ die dortigen 165 Mitarbeiter. Insgesamt zahlten EU und das Land Sachsen also 70 Mio. € Steuergelder für den Abbau von 17 Arbeitsplätzen (http://www.bund.net/lab/reddot2/pdf/muellermilch_melkt_steuerzahler.pdf).
Der legale Leistungsmißbrauch ist überall zu finden, wo die etablierten Parteien ihn ermöglichen. Gut verdienende Unternehmen wie BMW, die es eigentlich nicht nötig haben, lassen sich vom Steuerzahler sponsern (Werk Leipzig). Besserverdiener mehren auf Kosten der Steuerzahler mit Immobilien und Steuersparfonds ihr Privatvermögen. Wer ein Haus finanzieren kann, ist in den seltensten Fällen auf staatliche Fördergelder angewiesen, nimmt diese Leistungen aber trotzdem gern mit. Zahlreiche Subventionsempfänger erhalten einen Großteil Ihrer Einkünfte im Wesentlichen vom Steuerzahler, usw. Wer bleibt eigentlich übrig, der sich darüber aufregen dürfte? Wer würde in der gleichen Situation nicht ebenso handeln?
Zunächst einmal ist zu relativieren, daß die Zahl der tatsächlichen Sozialbetrüger und Arbeitsverweigerer verschwindend gering und damit irrelevant für die Sozialkassen ist (u.a. Jonas Viering: „Das Märchen vom Missbrauch“, SZ 21.10.2005). Wenn Arbeitgeber die Unbesetzbarkeit von Stellen beklagen, genügt ein Blick auf die Qualität dieser Jobs. Löhne, von denen man kaum leben und keine Familie ernähren kann. Entfernungen und Arbeitszeiten, die Beziehungen und Familien verhindern und zerstören. Schlechte Bedingungen abzulehnen ist also absolut vernünftig. Bei guten Arbeitsplätzen mit guten Bedingungen existiert das Jobbesetzungsproblem (wenn überhaupt) nur bei extrem hohen Qualifikationsanforderungen – und dann nützt Druck auf Arbeitslose nun wirklich nichts. Arbeitsverweigerer wären nur dann ein Problem, wenn ihnen massenhaft unbesetzbare offene Stellen gegenüberstünden – und das ist unzweifelhaft nicht der Fall. Jeder unmotivierte Arbeitslose, der gezwungen wird, einen Arbeitsplatz anzunehmen, nimmt ihn einem anderen, motivierteren Bewerber weg. Insgesamt bleibt es ein Nullsummenspiel. Wer Arbeit um jeden (niedrigen) Preis erzwingen will, sollte erst genau überlegen, ob er solche Jobs für sich selbst als erstrebenswertes Ziel betrachtet, bevor er es für andere Menschen fordert (siehe 1.2.3.: Erdbeerpflücker-Selbstversuch des Journalisten M.). Wer keine solchen ethischen Skrupel kennt, der muß sich dennoch eingestehen, daß Billig-Zwangsarbeit immer echte Arbeitsplätze zerstört (1.3.4.).
Der größte Vorteil der Arbeitsverweigerer ist, daß sie das Überangebot an Arbeitskraft nicht vergrößern. Denn je mehr Menschen in minderwertige Jobs gepresst werden, desto größer wird der Druck auf die Gehälter (und alle anderen Arbeitsbedingungen) auch derjenigen, die heute sorglos sind und relativ gut verdienen. Immer weiter wachsende Heerscharen arbeitsloser Akademiker würden die Arbeitsplätze der Besserverdiener liebend gern für erheblich weniger Gehalt, weniger Urlaub und längere Arbeitszeiten übernehmen. Dementsprechend sind Gehaltsverhandlungen bei Neueinstellungen eine Freude – für Arbeitgeber. Fast jeder, der heute seinen Arbeitsplatz wechseln muß, steigt (selbst bei gleichwertigem neuem Arbeitsplatz) gehaltlich ab. Besonders drastisch ist der Verdrängungswettbewerb allerdings in den unteren Lohngruppen. Gegen 400-€-Jobs haben selbst Geringverdiener keine Chance.
Je mehr Menschen die Arbeit verweigern, desto bessere Bedingungen (Gehalt, Arbeitszeiten, etc.) müssen Arbeitgeber bieten, sofern sie unverzichtbare Stellen besetzen wollen. Die Nutznießer sind also die Arbeitnehmer. Für Arbeitgeber ist das überhaupt kein Problem, sofern man den Kostendruck des internationalen Wettbewerbs reduziert (2.2.3.). Arbeitgeber haben – was das Gehalt betrifft – das entgegengesetzte Ziel von Arbeitnehmern. Je weniger Gehalt, desto höher ihr Profit. Daher haben die Unternehmer-Lobbyisten vollkommen logische Gründe, in der öffentlichen Diskussion die Arbeitsverweigerer als Problem hinzustellen. Politiker, die sich den Unternehmer-Lobbyisten anschließen, sollten sich fragen, wer sie gewählt hat. Ein genauer Blick auf Nebeneinkünfte und Abhängigkeiten ist ebenfalls sinnvoll (7.4.).
Warum wäre die Zahlung eines (nicht zu geringen) Arbeitslosengeldes (alias Bürgergeldes alias Sozialhilfe) weitaus besser als Billigjobs? Zunächst einmal, weil auch dies die Gehälter nicht unter Druck setzt. Gesamtwirtschaftlich und auch für die Steuerzahler ist die Versorgung per Sozialhilfe die kostengünstigste Lösung, Menschen (bewußt zynisch ausgedrückt) zu „entsorgen“, die in unserer zunehmend automatisierten Arbeitswelt schlichtweg überflüssig sind. Wer nicht arbeitet, macht einen Arbeitsplatz frei. Ein staatlich finanzierter Lebensunterhalt von jährlich 24.000 € ist gesamtwirtschaftlich billiger als die Zahlung eines Gehalts von 40.000 € (2.2.7.), da dieGesamtheit aller Gehälter über die Gesamtheit aller Produktkaufpreise durch die Gesamtheit aller Konsumenten bezahlt werden muß. Die Konsumenten haben also die Wahl, ob sie aus ihrer linken Tasche (über den Staatshaushalt = Steuerzahlungen) jedem Arbeitsverweigerer 24.000 € zahlen oder aus der rechten Tasche (über seine Konsumausgaben) demselben Menschen als Arbeitnehmer 40.000 € zahlen. Gleiches gilt übrigens für Studenten/Auszubildende (2.2.11.).
Die Stammtisch-Hetze gegen die angeblichen Sozialschmarotzer kann man am besten mit Zahlen des Statistischem Bundesamtes und des Bundesarbeitsministeriums entkräften. Wer weniger als 12 Monate arbeitslos ist, erhält für seine Arbeitslosenversicherungsbeiträge das Arbeitslosengeld I (ALG I). ALG I-Empfänger kosten die Steuerzahler also überhaupt nichts. 3.865.353 arbeitsuchende und arbeitsfähige Menschen waren länger als 12 Monate arbeitslos und erhielten deshalb ALG II / Hartz IV. Zusammen mit ihren Partnern/Kindern bilden sie „Bedarfsgemeinschaften“. Im September 2005 erhielten die 3.865.353 Bedarfsgemeinschaften monatlich durchschnittlich 834 €. Davon entfielen 274 € auf Wohngeld und Heizkosten, 205 € auf Sozialbeiträge und 355 € auf die monatlichen Lebenshaltungskosten. Nichts daran ist beneidenswert. 3.865.353 Bedarfsgemeinschaften mal durchschnittlich 834 € mal 12 Monate kosteten die Steuerzahler also knapp 39 Mrd. € im Jahr.
Am Stammtisch heißt es oft, „die Arbeitslosen sollen sich einen Job suchen“. Nehmen wir an, die 3.865.353 Menschen hätten bei ihrer Jobsuche Erfolg und wären künftig (relativ niedrig bezahlt) Arbeiter in der Produktion. Dann läge ihr Durchschnittsverdienst lt. Statistischem Bundesamt bei 2.560 € monatlich. Damit kosten sie ihre Arbeitgeber durchschnittlich (incl. Lohnnebenkosten) 37.720 € jährlich. Diese 37.260 € müssen irgendwo herkommen. Dieses „irgendwo“ ist der Preis der Produkte ihres Unternehmens. Wenn nun 3.865.353 ehemalige ALG II-Empfänger Lohnkosten von durchschnittlich 37.260 € verursachen, sind das insgesamt rd. 144 Mrd. €. Diese 144 Mrd. € Lohnkosten muß irgendwer zahlen. Dieser „irgendwer“ ist der Konsument, der mit den Preisen von Produkten auch die darin enthaltenen Lohnkosten zahlt.
Da Steuerzahler gleichzeitig Konsumenten sind, zahlen sie entweder 3.865.353 arbeitslosen Menschen 39 Mrd. € ALG II mit ihren Steuern oder 3.865.353 Arbeitnehmern 144 Mrd. € mit ihren Konsumausgaben.
Verdienen die ehemals Arbeitslosen mehr als die o.g. 2.560 € monatlich, sind die Kosten für die Konsumenten umso höher. Auch weil mehrere Millionen zusätzliche Konkurrenten auf die Gehälter drücken würden, ist es also aus Sicht der Steuerzahler/Konsumenten viel billiger, die so genannten „Drückeberger“ nicht in Arbeit zu zwingen. Es wäre für die Steuerzahler/Konsumenten sogar billiger, 5 Mio. Drückebergern jeweils 2.000 € monatlich (also insgesamt 120 Mrd. €) zu zahlen. Das Problem liegt im Sozialneid, nicht in den Finanzen.
Die Behauptung vieler Politiker und einiger Wirtschaftsprofessoren, das angeblich zu hohe Arbeitslosengeld sei als Lohnkonkurrenz mitverantwortlich für die Arbeitslosigkeit („Lohnabstandsgebot“), ist in die falsche Richtung gedacht. Das Ziel kann nur sein, die Gehälter dermaßen weit über relativ hohe Arbeitslosenunterstützungen zu treiben, daß sich Arbeit lohnt. Dabei kann und muß natürlich gleichzeitig die globale Lohnkostenkonkurrenz beseitigt werden (2.2.3., 3.4.).